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Berufswunsch Influencer

Wie (furchtbar) alt wir schon sind, merken wir an den Entwicklungswünschen der Heranwachsenden.


Vorbei die Zeit, als Astronaut oder IT -Spezialist auf der Hitliste standen. Tierarzt ist auch schon mindestens zwei Generationen her, Lokomotivführer freilich Steinzeit.


Angesagt sind Influencer. Und ja, das gilt neuerdings als Beruf, ebenso wie YouTuber.


Neun- oder Vierzehnjährige tänzeln täglich top gestylt mit Haferflocken, Katzennäpfen oder Hygieneartikeln vor der Kamera. Einst hieß so etwas Kinderarbeit und war verboten.


Zur Schule gehen sie noch, aber weil sie so viele Follower haben, wird sich das bald ändern. Müssen. Sagen auch Papi und Mami, die voll mit im Geschäft sind und ihre Jobs leider aufgeben mussten, um dem Kind zur Seite zu stehen.


Sie blicken auch immer mal mit drauf, was das Kind so treibt, sagen sie, denn, klar, sind unter den Followern einige, die Papi an Lebensjahren deutlich übertreffen und deren Interesse an Girliespielzeug sich nicht so recht erschließt. Oder eher doch und zwar auf widerwärtige Weise. Mami und Papi haben da kein Problem mit. Schließlich wisse das Kind, was gut ist, für sich selbst und die Familienkasse.


Während die Eltern diesen Text artig, wenn auch nervös aufsagen, schürzt das Girly Girl seine glossigen Lippen und verschränkt die Arme vor dem Oberkörper. Nein, Kinder will es erst später, obwohl das voll toll wäre, die Geburt live und ungeschnitten zu posten, aber das wird leider nicht klappen, da waren andere schneller.


Frühstück fällt aus, kein Problem, zwitschert das Kind, bei dem Einfluss, den es habe, müsse es am Ball bleiben. Zwei Videos pro Tag sind Pflicht, Professionalität ist alles und dazu passt kein Bad Hair Day. Also rasch noch mal zum Stylisten, dreißig Minuten Verspätung in der Mathearbeit sind kein Ding.


Bis in die tiefe Nacht muss der Influencer/die Influencerin Content produzieren, um die Follower nicht zu enttäuschen, denn die Meute giert nach Unterhaltung.


Notfalls muss sie mit Ganzkörperbildern in aufregenden Posen gespeist werden. Und niemand regt sich auf.


Wer will schon gehatet werden? Likes sind die Währung, die sich in klingender Münze auszahlen.


Nicht das von Rene Descartes postulierte „ego cogito, ergo sum“ ist Gewissheit, denn denken scheint überflüssig geworden.


Beim Denken sieht man womöglich auch nicht stylish aus, zu wenig Action, kaum Gelegenheit, sein zu promotendes Outfit ins rechte Licht zu rücken.


Ich poste, als bin ich, ist die aktuelle Maxime.


Wer das hinkriegt, vom Abfilmen seines Hartz- Vier- Alltages zum „Star“ aufzusteigen, weil die Fernsehkamera nun dabei ist, während das Paar verzweifelt eine 24 -Zimmer- Villa auf Mallorca sucht, die seinen Ansprüchen nahekommt…Respekt.


Wer eigentlich sieht sich Videos an von Menschen, die ihre Zähne putzen, sich schminken, beim Waxing stachliger Intimzonen oder die ihre geistig unterbelichteten Kommentare in die Kamera prusten?


Sind das wirklich wir? Sind das unsere pubertierenden Kinder?


Mangelt es ihnen an Bestätigung, an Wärme und Zuwendung? Haben wir als Eltern derart versagt?


Ist es unsere Schuld, dass die Kinder Blödheit „voll cool“ finden und danach gieren, ihre Haut zu Markte zu tragen?


Denn es ist wahr, eine ganze Generation strebt danach, sich selbst zu vermarkten. Um jeden Preis.


Wissen war gestern Macht, heute scheint es Ballast.


Auf Lanzarote trifft man sie jetzt auch immer öfter, die Ignoranten, die verbotenerweise durchs Lavameer im Nationalpark latschen, Basaltmagma zerbröseln und dümmlich grinsen.


Man erkennt sie von weitem, die sie sich in sattsam bekannt Posen werfen, blitzartig ihr Köpfchen nach hinten werfen, die Hand im Nacken, die Lippen frisch angeleckt, die Hüfte vorgeschoben, die Beine gespreizt.


Dann noch rasch die Bildbearbeitung: verschlankt, entpickelt, voll optimiert an das Durchschnittsideal der Gegenwart.


Boah, geil.


Kürzlich begegnete ich einer etwa Zwanzigjährigen auf einer viel befahrenen Straße. Erlaubte Höchstgeschwindigkeit: 90 Stundenkilometer.


Sie hatte ihr farbiges Tuch auf dem Asphalt über dem Mittelstrich ausgebreitet und sich selbst im Bikini, neben ihrem Leihcabrio.


Ich konnte rechtzeitig stoppen. Was sie da mache? Ein geiles Selfie, war die Antwort.


Hoffentlich hat sie es sofort gepostet.


Angesichts des Verkehrs war es womöglich das letzte.



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