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Nennen wir sie ISOLDE

Sie ist nicht Aufsichtsratsvorsitzende, nicht einmal Anwältin oder irgendwo die Chefin.

Sie ist Mutter von zwei erwachsenen Söhnen, einer studiert auswärts, Journalismus wie der Vater, das Nesthäkchen Moritz noch daheim.


Anfang fünfzig sieht sie blendend aus, schlank, Schneewittchentyp, kaum graues Haar, verbringt sie die meiste Zeit in ihrem Heim mit Garten.


Alle Besucher schwärmen von dem lichten Haus, weil es so geschmackvoll eingerichtet ist und man nicht sofort merkt, dass es bloß ein Pflegeheim ist.


Von Beruf Lektorin, zumindest war sie das einmal, bevor die Kinder kamen, ihr Ehemann erkrankte und ihr gemeinsames Leben in Scherben fiel.


In Tobias hatte sie sich verliebt, weil er so belesen war, charmant, witzig, und ihrem Ideal eines gut aussehenden Mannes ziemlich nahekam. Sie galten als herrliches Paar. Vierundzwanzig Jahre lang.


Tobias als Redakteur und Mitherausgeber einer Tageszeitung arbeitete siebzig Wochenstunden und sie in Teilzeit, hielt ihm die Kinder fern und den Rücken frei, engagierte sich darüber hinaus in der Gemeinde, in der sie, die Zugezogenen, schnell heimisch wurden.

Isolde hielt vielerlei für möglich, sie kannte Geschichten aus der Journaille, hörte Anekdoten von Flirts zwischen Sekretärinnen, Volontärinnen, Redakteurinnen und den dazugehörigen Chefs, sämtlich männlich. Die mündeten nicht selten in Zweitbeziehungen, Zweitkinder und Zweitfeiertage.


Sie hielt ihre Ehe für zu gut als dass ihr etwas so Profanes geschehen würde. Dennoch, im Inneren hielt sie Ehebruch, wenn Tobias sich in der Midlifecrisis langweilte, nicht für ausgeschlossen.


Für völlig ausgeschlossen hielt sie einen Schicksalsschlag unter der Gürtellinie wie er dann eintraf.


Schwerwiegende Erkrankungen geschahen sonst immer den anderen, Menschen, über die Tobias preisgekrönt einfühlsam schrieb, eine ganze Serie machte er daraus, die Auflage stieg.


Dann brach ALS über ihre Familie herein, ihr samtiges, leichtfüßiges Leben zerschellte.

Und anders als in den Reportagen ihres Mannes, wo die Partner die Bürde als eine Aufgabe klaglos trugen, kam Isolde nicht mehr klar.


Es ist jetzt vier Jahre her, dass Tobias zuletzt mit ihr sprach.


Wenn man sprechen nennen will, was der Sprachcomputer blechern übersetzte, vom Lidschlag ihres Mannes, der zu dieser Zeit bereits seine Stimme eingebüßt hatte wie auch die Fähigkeit, zu essen, sich zu bewegen, selbständig zu atmen und sonst irgendetwas zu tun.


Das Letzte, was er Isolde auf diese Weise mitteilte war: „Ich lege mein Leben in deine Hände, Liebes.“


Niemals kann sie zugeben, dass sie gehofft hatte, er würde seine ursprüngliche Patientenverfügung ändern. Im letzten Augenblick, ehe es zu spät war.


Als die Diagnose gestellt war, die ersten Symptome auftraten, er zwar nicht mehr arbeiten, aber sich noch mitteilen konnte, da hatte er verfügt, dass sämtliche medizinischen Möglichkeiten ausgeschöpft werden sollten, egal, was geschähe.


Er war fortschrittsgläubig und sicher, dass bald schon ein Mittel gegen seine Krankheit gefunden würde.


Als auch der Lidschlag nicht mehr funktionierte, ließ er angestrengt den Sprachcomputer röhren, dass er Wichtiges zu sagen habe, alle sollten dabei sein. Es sollte etwas Endgültiges sein.


Das Letzte: „Ich bleibe bei Dir. Weil ich dich liebe.“


Die Pflegerin, Moritz, der Sohn, ihre Schwiegermutter, ihre Freundin, sein bester Freund, alle hatten es gehört.


Isolde denkt jeden Tag an diesen Satz. Aus Liebe also. Für immer zusammen. Gekettet.


Sie lädt regelmäßig seine ehemals engsten drei Freunde ein. Sie versammeln sich an seinem Bett und halten einen Plausch. Angangs alle drei Monate, jetzt einmal vor Weihnachten. Sie sind in Wahrheit nur noch untereinander befreundet, immer etwas beklommen und sie würden diese Runden gern an einen fideleren Ort verlagern, fühlen sich aber Isolde verpflichtet, die sonst einsam wäre auf ganzer Linie.


Sie küssen Tobias zur Begrüßung auf die Stirn oder die Halbglatze. Sein Mund, ewig feucht, schmal und grau geworden, ist Isoldes Lippen vorbehalten.


Sie reden gedämpft miteinander und ab und zu ruft jemand: „Stimmt doch, Tobi?!“

Isolde gilt als stark, sehr rührig und alle bewundern ihre Energie, ihre Heiterkeit, ihre Standfestigkeit.


Es weiß ja keiner, dass sie in der Dusche den Kopf gegen die Fliesen knallt, wenn sie es gar nicht mehr ertragen kann.


Tobias liegt nun seit vier Jahren im Bett, sein schwindender Körper ist ihr nicht widerlich, sie hat sich an alles gewöhnt.


Sie haben genügend Geld für Rundumpflege. Luxus, den nicht jeder hat. Drei Pflegerinnen wechseln einander ab. Sie haben die Beatmungsmaschine und eine Menge Equipment, das kurze Ausflüge ermöglicht. Sie geht arbeiten, sagt sie. Betreut für zwei Stunden am Tag Kinder, die ihre Hausaufgaben allein nicht schaffen, intellektuell ist sie permanent unterfordert, daher sind ihr die Gespräche mit den Freunden ihres Mannes so wichtig.

Sie bereitet dann bunte Häppchen vor, es gibt heißen Kakao und sie redet sich ein, dass die Freunde gerne kommen, weil sie es sagen.


Sie nimmt ihren Mann mit, wenn sie ausgeht, denn das lässt sie sich nicht nehmen, kleine Konzerte, Lesungen. Sie nennt es, das Leben genießen.


Zum Glück krakeelt er nicht mehr. Stumm und beatmet sitzt er in seinem Rollstuhl unter einer flauschigen Decke, eine Pudelmütze auf dem Kopf und wenn eine Band spielt, tanzt sie hinter seiner Lehne und ab und zu beugt sie sich zu ihm nach unten und legt ihre kühle Hand an seine Wange.


Niemand kann sagen, ob er irgendetwas mitbekommt.


Sie hat sein Pflegebett schon von Anfang an im Wohnzimmer aufstellen lassen.


Ihre Idee war das nicht, sondern die Idee einer guten Freundin.


Es blieb ihr nichts anderes übrig als begeistert zu sein.


Neben seinem Bett, das die Hälfte des großen Wohnzimmers einnimmt, hat sie eine leicht aufzuklappende Couch platziert. Sie schläft nicht neben ihm ein, ohne seine zweigdünne Hand zu tätscheln.


Sie wird durchdrehen, sie weiß es, aber mit seiner Patientenverfügung hat er ihr die Möglichkeit genommen zu leben. Aus Liebe.


Dann hatte sie einen sonderbaren Traum, der sie veranlasst hat, alle Kissen von ihrer Schlafcouch zu entfernen.


Wenn es so einfach wäre. Ihm oder ihr wird etwas geschehen, wenn nichts geschieht. Das war der Satz, den sie sagte, als sie Kontakt aufnahm.


Sie kommt zum dritten Mal nach Lanzarote. Sie nennt es auftanken. Am Sonntag wieder.




Foto: National Cancer Institute



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