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Sind wir, was wir sein wollen?

Wir sind, was wir sein wollen, höre ich in der neuen, aufgeplusterten Welt der Selbstvermarktung.


So einfach also. Und schon zweifle ich.


Gerade haben wir den Kollaps der Systeme erlebt, geschuldet einer Pandemie, die mehr als die Umstände änderte.


Vermeintliche Gewissheiten kollabierten ebenso wie das eigene Stresssystem und die German Angst ist nun weit verbreitet und verliert jeglichen Witz.


Die German Perfektionsgier gerät ins Taumeln.


Bis eben noch waren wir auf dem Weg, erfolgreicher, perfekter, anerkannter und schöner zu werden und alles mit dem Präfix NOCH.


Wir sind schon toll. Und wollen immerzu noch besser werden.


Aufwärts gilt als einzig akzeptable Richtung.


Von Scheitern war nie die Rede.


Dass nun Fassaden in sich zusammenbrechen, beklagen wir heimlich.


Mancher will uns animieren, dem Weiter-so ein Stoppschild zu setzen.


Auch ich fände es gut, wenn wir nicht länger krampfhaft künstliche Fassaden neu hochziehen.


Also keine elegant kombinierte Farbwelt aus Buchrücken, senfgelb, ozeanblau und flaschengrün als Videokonferenz-Hintergrund bitte.


Man kann sich sein wechselndes Image neuerdings nicht mehr nur kaufen, man kann es auch mieten. Gut sortiert, nicht nur nach Farben, auch nach Titeln versteht sich. Intellektuell, modern, weltoffen, vielleicht tierlieb, klimabewegt, je nach beruflichem Spektrum, alles geht, alles soll.


Der Moment des zwangsweisen Innehaltens aber ist tatsächlich eine Chance.


Wir könnten uns auf das besinnen, was wir brauchen, was uns im Innersten froh macht.


Auf das vor allem, was wir in uns tragen:

Die Fähigkeit und den Mut, wir selbst zu sein mit Ecken und Kanten, ein Individuum mit Charakter und Lebenserfahrung, mit Marotten und Irrtümern und großartigen Imperfektionen.


In meinem langen, bunten Berufsleben bin ich vielen außergewöhnlichen Menschen begegnet:

mutigen und ängstlichen, offenen und introvertierten, wahrhaftigen und blendenden, warmherzigen und unterkühlten, emphatischen und selbstsüchtigen. Ja, auch hundsföttisch Gemeinen.


Allen bin ich dankbar.


Ich traf viele, die sich an der Vorstellung ihres Ich abarbeiteten, möglichst gut bei ihrem Gegenüber anzukommen, Menschenmasken, die überraschten, wenn für einen Moment die Larve fiel.


Und ich begegnete sehr vielen anderen, unverwechselbaren, unvergesslichen Persönlichkeiten, die echt und darum stark sind.


Wahrhaftig zu sein, darauf kommt es an, denke ich, und in diesem Sinne coache ich.

Natürlich, „wir wollen schön sein und gestärkte Manschetten tragen“ (so formulierte es der französische Sozialphilosoph Pierre Bourdieu). Wenn unsere Lebensart, unser Stil perfekt sind, fällt etwas von der Wertschätzung für diese auf uns ab, hoffen wir.


Wenn wir also innerhalb der sozialen Strukturen das uns gemäße Milieu erreicht haben, die erstrebenswerte soziale Zugehörigkeit, durch Fleiß und Anpassung etwa, sind wir, was wir sein wollen.


Alles Unangenehme gleitet teflonartig von uns ab.


Schöne, neue, alte, irre Illusion das.


Die permanente Selbstinszenierung, der hektische Abgleich mit künstlich erzeugten Idealen, zermürbt.


Wir wollen sein wie all die anderen, denen es anscheinend so viel besser geht, weil sie Zugang zu was auch immer haben. Das hätten wir jedenfalls auch gern: die einträgliche Position, die richtige Nase, die angesagte Designerlampe, den perfekt trainierten Body, das geheime Pseudowissen all derer, die immer so viel zu sagen wissen, dass Herden von Followern hinter ihnen her hecheln.


Dieser Zug ist uns wesensimmanent.


Sogar als wir noch in der Höhle lebten, kämpften einander widerstreitende Sehnsüchte in uns.


Einerseits bloß nicht auffallen.


Andererseits wollten wir uns unbedingt abgrenzen, von den anderen, die im gleichen Tierfell ums Feuer hockten. Wir hingen uns ein Knöchelchen der Beute vor die Brust, wir färbten mit Rinde unser Haar, betupften mit Ton unsere Haut. Wir ahmten Tierlaute nach, ritzten Beutetiere in Felswände und reckten uns im Schatten der Glut zu Riesen. Einige von uns sagten vorher, wer das Mammut erlegen würde und deuteten mit dem Finger auf die betreffende Person.


Und so geschah es. Der Auserwählte wuchs über sich hinaus.

(Etwas später ließ sich der Auserwählende diesen Benefit vergelten, Schamanentum als blendende Geschäftsidee, aber das ist eine andere Geschichte.)


Jeder von uns wollte schon immer auffallen in der gleichförmigen Meute.


Bloß nicht untergehen.


Denn nur so würde sich die Horde für uns entscheiden.


Falls die Gruppe gespalten wurde, im Morast versank, einige auf trockenem Mulch, die Geretteten und die Übrigen. Oder auf der Flucht, wenn der rasende Büffel die Zurückgebliebenen aufspießte.


Wenn viele am Abgrund klammern, wen von den Überzähligen würden die anderen wählen?

Nur den, der anders ist als der graue Rest.


Nützlich muss sein, wer mitgenommen werden will.


Besonders muss sein, wer ausgewählt werden will (zu Ungunsten anderer und auch das ist eine andere Geschichte).


Ich behaupte, wahrhaftig muss sein, wer gerettet werden will, wenn alle anderen mit wichtigen Fähigkeiten schon auf festem Grund hocken.


Reichen wir also im letzten Moment dem struppigen Sonderbaren, dessen Fell nach nassem Hund riecht, die rettende Hand? Er weiß Geschichten am Feuer zu erzählen, die uns trösten in den eisigen Winternächten. Geschickt bei den alltäglichen Aufgaben ist er nicht.


Wählen wir besser den Fleißigen, der trockenes Holz heranschafft, Späne aufhäuft wie kein zweiter, so dass ein zartes Flämmchen ein Feuer entfacht?


Den, der Beeren findet, die keiner entdeckt oder kennt? Und diese dann auch todesmutig probiert, ehe wir anderen zugreifen?


Oder doch lieber den muskelbepackten Hünen, der den Feind aus unserer Höhle fernhält?


Wie wägen Sie ab?


Wen nehmen Sie mit?


Und wer wollen Sie sein?


Wer sind Sie in Wahrheit, in Ihrem Kern?


Es ist Zeit, das herauszufinden.


Ich übrigens wähle den Struppigen. Nicht ganz uneigennützig, denn wer Geschichten zu erzählen weiß, hat Fantasie. Ihm wird schon was einfallen, wenn es nötig ist.


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