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AutorenbildAnne Loch

Und dann mal weg

Aktualisiert: 2. Apr. 2021

Gehören Sie auch zu den Leuten, die möglichst keine Folge von Auswandererserien im Fernsehen verpassen?


Die mit Sehnsuchtsblick vom Sofa den Trampelpfad derer in ein fernes Land verfolgen, die „dann mal weg“ sind, obwohl nicht einmal prominent?


Von Menschen, die sich im Dschungel der Fremdheit verirren?


Die ihr Scheitern samt häuslichem Zwist vor aller Augen und Ohren ausbreiten und sich zum sprichwörtlichen Eichhörnchen machen?


Von Mitleid geschüttelt möchte man gleich wieder wegschauen. Wenn das Zuschauvergnügen nur nicht so groß wäre.


Ich bin eine von Millionen, die sich beim Hinsehen lustvoll fremdschämen.


Denn was, bitteschön, treibt einen Menschen, in ein Land zu übersiedeln, dessen Sprache er nicht spricht, dessen Kultur er nicht versteht, von dessen Historie er keinen Schimmer hat und dem er so gesehen rundherum nicht gewachsen ist?


Ich weiß es wirklich nicht. Dabei, ich sollte es wissen, denn ich bin einer von diesen Menschen.


Meine Großmutter Else glaubte fest, dass wer seine Heimat verlässt, Dreck am Stecken haben müsse.


Sie wusste nichts von Wirecard - Vorständen und den Fluchten der Moderne. Aber Heimat ging ihr über alles und sie war der festen Überzeugung, dass man diesen Flecken Erde, auf den man qua Geburt geworfen wurde, um keinen Preis verlassen dürfe, ohne Schaden zu nehmen.


Darüber kann ein entschlossener Auswanderer nur müde lächeln, denn das zeichnet ihn aus, dass er die Heimat, allein das Wort…locker hinter sich lässt.


Um es vorwegzunehmen: Ich war nicht auf der Flucht, ich fand Deutschland nicht sterbensöde.


Denn das Land, in dem ich lange lebte, war vollkommen.


In der Ordnung.


Keimfrei, gründlich durchgeharkt und gefühlt rechtwinklig.


Hygienisch einwandfrei.


Aber eben auch relativ leidenschaftslos.


Unterkühlt, blutarm.


Das Dingeparadies Deutschland, das so ungeheuer überquillt von allem, es sättigte nicht auf Dauer.


Über allem lag eine enorme Anstrengung, wie die zähen Nebelschwaden von Oktober bis März jeden Jahres.


Die Heimat drückt manchmal aufs Gemüt, aber wenn sie nicht bloß ein Territorium, sondern eine Idee oder eine Utopie ist, sollten sich nicht noch andere finden?


Also: dann mal weg.


Allein im Jahr 2019 wanderten 24 813 Deutsche in ihr Lieblingsreiseland Spanien aus.

Fast genau so viele zog es nach Österreich, nämlich 23 410, und 23 456 Menschen in die Schweiz.


Für 45 136 Bürger war Italien der Sehnsuchtsort Nummer eins.


Das kann ich sehr gut verstehen, entschuldige Deutschland, aber Italien…ist noch tausendmal schöner als du.


Niemand wollte 2019 nach Tonga oder Tuvalu.


Nur eine einzige Frau und einen einzigen Mann zog es nach Vanuatu, dabei soll es ganz reizend sein im Südpazifik.


Es keimt der Verdacht, dass die neue Wahlheimat zwar etwas exotisch sein soll, aber doch nicht zu wild.


Irgendwo ähnlich der, der man den Rücken kehrt, damit man sich nicht allzu fremd fühlt.

Denn eine Auswanderung ist meist nicht so drollig, wie in Auswanderererfolgen zurechtgeschnitten.


Kaum nämlich hat man sich losgerissen, die zähen Schnüre der deutschen Zugewinngemeinschaft durchtrennt und knapp glaubt man sich am Ziel seiner Sehnsüchte, zerrt eine unerwartete Sehnsucht nach Gewohntem an den Nerven und den Magenschleimhäuten.


Mit Abstand, aus der Ferne kann ich jedenfalls viel mehr Schmeichelhaftes über meine alte Heimat sagen.


Ohne Ironie: Deutschland, du bist großartig.


Ich jedenfalls kenne kein einziges anderes Land, in dem alles so präzise FUNKTIONIERT.


Wie viele vor mir begreife ich erst andernorts, wieviel Deutschtum ich auf dem Kerbholz habe.


Denn kaum hat der Deutsche seine Heimat verlassen, lechzt er nach einer neuen.

Mild soll die sein, es gut mit dem Zugereisten meinen.


Sie soll Charme und Chancen und nicht zuletzt jene hohen Hygienestandards aufweisen, wie wir sie von daheim gewöhnt ist.


Sie soll uns alles bieten, was wir schon kennen und besitzen und worauf wir Anspruch zu haben meinen.


Alles, was wir schätzen und brauchen.


Denn es sind

„… nicht nur die Städte und Dörfer, unsre Heimat sind auch all die Bäume im Wald. Unsre Heimat, ist das Gras auf der Wiese, das Korn auf dem Feld und die Vögel

in der Luft und die Tiere der Erde und die Fische im Fluss sind die Heimat…“,

wie es in dem Kinderlied heißt.


Es sind auch die Körner in des Deutschen unübertroffenem Vollkornbrot, sein reinheitsgebrautes Premiumbier, sein Striezelmarkt und sein Oktoberfest, sein Schubert- Liederabend, sein Baumarkt und die Autowerkstatt seines Vertrauens, seine Pünktlichkeit, Ordnungsliebe und Zuverlässigkeit und alles das, worauf wir glaubten, locker verzichten zu können und wonach wir uns nach erschreckend kurzer Zeit verzehren.


Toll, ja, toll ist es schon hier, denkt man, während man am Neujahrsmorgen im Atlantik krault.


Aber so richtig saftige Printen, blühende Weidenkätzchen im Park, ein kühler Tannenwald, ein Strauß Tulpen, ein Klempner, der weiß, was er tut, oder ein ordentliches Schneegestöber… Nicht so übel das.


Da juckt es ihn in den Fingern, den guten Deutschen, sich die neue Heimat heimelig herzurichten.


Die Hiesigen wissen, was sie erwartet, denn es ist immer das Gleiche mit uns.


Mit Fleiß und einem exakten Plan macht er sich her, der Teutone, über das Land, in dem er Gast ist und als „Quadratkopf“ gilt, wegen seiner unausrottbar deutsch - brutalen Gründlichkeit, vor der seine neuen Landsleute sich wohlig gruseln.


Er kann da nichts für, dass er ist, wie er bleibt, ein Schnitzer am Ast, über dem er baumelt.

Die Welt zentimetergenau vermessend, zutiefst kontrolldeutsch, denn die alemannische Seele ist zackig obenauf, robust und stachlig, doch in der Tiefe blaublumig romantisch und kann nicht aus ihrer dünnen Kitschhaut.


Nicht wirkungslos lagern die Heerscharen alemannischer Dichter und Denker uns im Nacken.

Von denen etliche durch ausgiebiges Grübeln zu der Überzeugung gelangten, dass sich an einem Obstbaum aufzuknüpfen nicht verquaster Selbstmord ist, sondern Heimatschutz.


Ganz tief drinnen sind wir verdorben für Leichtfüßiges, unterwandert von Goethe und seines Wanderers Nachtlied, umgerissen vom schäumenden Gaul des Erlkönigs, eingeschüchtert von Grimm’schen Märchen, besäuselt von Brentanos und seines Knaben Wunderhorn und bewandert in Fontanes Stechlin und knorzigen Birnbäumen.


Auf Lanzarote hat es keine Birnbäume und keine Misch- oder Nadelwälder und was hier „El Bosquecillo“, also das Wäldchen, heißt, entpuppt sich als eine Handvoll windverkrüppelter Pinien und Lorbeerbäume am schwer zugänglichen Vulkanfelsen Risco de Famara.


Ganz plötzlich begreift man, wie man ihn seit Kindheitstagen mit sich herumträgt, den satten, tiefen, dräuenden, Pilze spendenden grünen, deutschen Wald. Soweit davon entfernt, ist mancher geneigt, sogar die braune Gegend um den Schwarzwald herum irgendwie grün zu finden. (Nein, das geht denn doch zu weit. Das letzte Mal als ich im Schwarzwald war, hingen überall unbehelligt Naziplakate.)


In dem Territorium, in das ich hinein geboren wurde, verabreichte man die ursprüngliche Sozialisation nicht eben per Samthandschuhen. Zum Trost gab es den Wald, in dem man sich verlieren konnte, ohne verloren zu gehen. Ohne Wald könnte ich nicht leben, meinte ich zu wissen. Und nun: El Bosquecillo.


Der zu allem Unglück im letzten Jahr fast verbrannt ist in einem heißen, trockenen Sommer.

Und der mir seitdem viel eindrucksvoller erscheint, Überlebenskünstler, der er ist.


Der aktuelle Waldzustandsbericht verheißt leider auch nichts Gutes für den deutschen Wald.

Historisch schlecht geht es ihm, konstatieren die Wissenschaftler. Nur noch jeder zehnte Baum gilt als pumperlgesund.


Fichten, Kiefern, Buchen …allesamt am Ende nach drei Dürrejahren, Waldbränden und Käferfraß. Alles Mögliche steckt ihm in den Kronen. Der Regen, wenn er denn fällt, maßlos, kann nicht aufgehalten werden im Waldboden, denn auch dieses System ist aus den Fugen.


Da feiert der Borkenkäfer in den mürben Beständen weiter sein zerstörerisches Fest.


Der sattgrüne Wald vergilbt. Die Idylle wird Sepia.


Und irgendwann könnte er weg sein.


Für immer.


Der selig dräuende Wald weggerafft.


Aber es gibt Hoffnung:

Der Wald in Deutschland wird zwangsläufig südlicher werden.


Arten, die angepasster sind an die Trockenheit und Hitze des Klimawandels, werden in den deutschen Wald einwandern und dort heimisch werden.


Eine Baumgemeinschaft diverser Herkünfte.


Das Auswandern der Bäume bedeutet Einwandern in die Fremde, sich die neue Heimat erschließen. Sich anpassen. Sich assimilieren.


Sich anfreunden.


Na bitte, geht doch.


Dank an das Statistische Bundesamt


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